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Aline Bonnefoy
Veröffentlicht am
15.06.2020
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Virtuelle Fashion Week in London: Zwischen Endzeit und Unschuld

Übersetzt von
Aline Bonnefoy
Veröffentlicht am
15.06.2020

Die Stimmung nach dem Auftakt zur digitalen Männermodewoche in London wurde nirgends so treffend zusammengefasst wie im Titel von Matthew Millers Beitrag: "Post Apocalyptic Merchandise" –Postapokalyptische Ware.


Ein Screenshot des Videos Post Apocalyptic Merchandise von Matthew Miller- Instagram


Am Sonntag drehte sich zum Auftakt der vollständig digital organisierten, ideenreichen und charakterstarken London Fashion Week alles um Nachhaltigkeit und Inklusivität – Themen, die den modernen Zeitgeist bestimmen. Es war aber auch eine Suche nach elegischer und unschuldiger Mode zu erkennen. Darüber hinaus ließ sich angesichts der vielen angeschlagenen jungen Modehäuser ein Wunsch nach Überlebensfähigkeit verspüren.

Matthew Miller zeigte eine Collage aus Archivbildern, die zu einem dunkeln industriellen Soundtrack gezeigt wurden. Dies sei eine "Momentaufnahme unserer Lage als Spezies und reflektiert die turbulenten, unsicheren Zeiten, in denen wir leben". Trainingsvideos im Retrolook, Roboterfabriken und Ansprachen von Oberst Ghadafi vermengten sich mit Testflügen von Jagdflugzeugen, Raketen und vielen jungen Models – alle mit Masken und T-Shirts mit der Aufschrift "The New Normal", "Armed Self Defense" und "New Future Systems".

Unschuld war das Leitmotiv bei Preen von Thornton Bregazzi. Er zeigte ein kurzes Video von Turkina Faso, in dem eine Blondine vor dem Sonnenuntergang durch einen hügeligen Stadtpark tanzt und läuft, gekleidet in leuchtrote gerüschte und gebauschte Kleider, mit pinkfarbenen Cocktails in der Hand. Der Soundtrack bestand aus einer Mischung von Gabriel Prokofiev und einer Aufzug-Stimme, die ankündigte, dass sich die Türen öffneten, schlossen, der Aufzug nach oben oder nach unten fuhr. Leicht verwirrend der Titel des Videos – Seasonless 2020.


Für die italienische Vogue liest Tomfoolery ein Gedicht über die kindliche Vorstellungskraft - London Fashion Week



Die ursprünglich als Menswear-Saison geplante Veranstaltung wurde in Folge der Coronavirus-Pandemie auf Damenkollektionen ausgeweitet. Sie umfasst ausschließlich Online-Schauen und -Präsentationen, die meisten davon in Form von im Voraus aufgezeichneten Videos. Den Auftakt zum Sonntag machte ein Interview mit dem berühmtesten Adligen der britischen Modeszene – Sir Paul Smith.<<<10>>>
"Ich habe während des Lockdowns die ganze Zeit gearbeitet. Es war einsam, aber interessant, da wir so kreativ waren. Als ich hier in der Mode angefangen habe, ging es um besondere britische Stoffe – ländliche oder städtische Mode. Nun habe ich das Gefühl, dass ein gewisser Sinn für Humor und ein Querdenken Einzug gehalten haben", so Paul Smith, der aus seinem Büro in Covent Garden mit dem chinesischen Botschafter der LFW, Hu Bing, sprach.

"In den 80er-Jahren reiste ich erstmals nach Peking und mein Fremdenführer sagte mir, dass es in der Stadt 12 Millionen Fahrräder gab. Nun sind es wohl 200 Millionen Autos", erinnerte sich der Designer. Auf die Frage, was er den chinesischen Zuhörern sagen wollte, antwortete er: "Individualität und eine eigene Persönlichkeit zu haben ist in dieser homogenen Welt etwas Wundervolles. Wie ein versteckter Knopf oder ein buntes Futter in unseren Jacken bei Paul Smith".

"Ich bin vor 20 Jahren in diesen Raum eingezogen. Damals war er leer und heute ist er vollgestopft mit Büchern und Gegenständen, viele davon von Fans aus aller Welt. Es ist so fantastisch, dass ich mit allen meinen Assistenten hier an diesem Tisch sitzen kann – und einfach sofort loslegen kann, mit Ideen, einer großartigen Farbe oder einem Bild aus einem Kunstband. Normalerweise sind wir 180. Nun bin ich ganz alleine. So war es sehr schwierig, mit der Arbeit an der Herbst-/Winterkollektion 2020/2021 zu beginnen. Ich kann keine meiner Ideen zeigen, ohne sie zunächst zu scannen und per E-Mail zu verschicken", stöhnte er mit einem lauten Lachen.

"In London haben wir die Chance, fantastische Kunsthochschulen und -Universitäten zu haben und diese großartigen Inputs von Studenten aus aller Welt. Vielleicht hat uns die Pandemie demütiger gemacht, für mehr Geselligkeit und Bodenständigkeit gesorgt. Aus geschäftlicher Sicht war sie eine Katastrophe. Alle meine Läden sind geschlossen, aber ich muss dennoch Miete und Löhne bezahlen", erklärte er abschließend.


Nachhaltige Kopfschmuck-Kollektion von 8ON8's für 2020: "The Crown of Ruins"- London Fashion Week



Die berühmteste Design-Schule der Stadt, Central Saint Martins, zeigte zahlreiche Master-Studierende, die während der Isolation Stoff entwickelten, viele abstrakte Formen, vibrierende Sketches und Bilder. Nicht viele tatsächliche Kleider, aber eine explosive Menge an frischen und atemberaubenden Visionen. Um nur drei davon zu nennen: Ile Guilmard fertigte in einer winzigen Wohnung Filz-Fechtjacken und Leggings aus Abdeckband, Jordan Deeby zeigte in seinem Survivalexert vorzügliche Designs und Höflingsjacken und Jacob Pulley spielte auf den legendären Klaus Nomi an – den wahrscheinlich ersten bedeutenden Künstler, der an AIDS gestorben ist.

In einer fabelhaften Videopräsentation drehte sich alles um Amerika. Natasha Zinko x DUO Ltd. zeigten das Land of the Free auf nostalgische Weise, mit schönen Rockern, die unweit von Ölraffinerien in einem leuchtroten Cadillac-Cabrio durch riesige Mohnfelder fuhren. Weit entfernt von jeglichem Lockdown-Gedanken, mit vielen US-Flaggen auf den Rücken. Dazu Arbeiter-Denim, Fender-Gitarren und einige brillante Rockabilly-Jacken mit Retro-Patchwork-Karos und Hemden mit Mikro-Pistolen-Print. "Die ultimative Flucht: Eine Reise ohne physische Fahrt", erklärte der Designer. Das trifft wohl auf die ganze Saison zu.
 
Das Wochenende war auch von verschiedenen Diskussionen geprägt, wie Dylan Jones, Chefredakteur von GQ und Gründer der unabhängigen Menswear-Saison in London, der mit dem Designer Christopher Raeburn sprach. Dessen größte Beschwerde sich darum drehte, dass die Frühjahrskollektionen vor Weihnachten geliefert werden und dann noch bevor das Wetter wirklich warm wird im Ausverkauf angeboten oder gar ganz aus dem Sortiment gezogen werden.

"Im Grunde ergibt das, was wir als Branche tun, keinen Sinn. Es ist offensichtlich fehlerhaft", beklagte sich Raeburn, wobei er eine unter Designern verbreitete Meinung äußerte.

Eine LFW, die durch eine Sehnsucht nach mehr Unschuld geprägt war. Der Schriftsteller und Performancekünstler Tomfoolery las ein neues Werk mit dem Titel What are you drawing, das von der italienischen Vogue in Auftrag gegeben wurde. Deren jüngste Ausgabe ist Kindern rund um die Welt gewidmet.

Der wahrscheinlich "wahrhaftigste" digitale Moment war das Kurzvideo von Hutmacher Stephen Jones. Für <<<2>>>arbeitete dieser mit dem Modeavatar Noonoouri zusammen, der auf Instagram über 200.000 Follower zählt, und bereits Werbekampagnen mit Marc Jacobs und Versace gemacht hat. Diese vegane Modepuppe, die sich gegen Pelz einsetzt, erschien mit einer großartigen Reihe von Hüten – von wirbelnden Spiralfantasien über ausgeschnittene Alpenkappen bis hin zu Mini-Zirkus-Hüten.


Modedesign-Master, Jahrgang 2021, Central Saint Martins  - London Fashion Week


Am Abend zuvor sorgte Osman Yousefzada für einen der denkwürdigsten Beiträge. In Bangladesch drehte er ein Video von Textilarbeiterinnen, und über ihre Reaktionen auf Fast-Fashion-Stücke, die in britischen Wohltätigkeitsläden angeboten wurden. Alle wurden in ihrem Land hergestellt, kosten jedoch mehr, als sie sich je leisten könnten. Indem diese Kleider "zurück zu ihrem Herstellungsort geführt werden, zu Frauen, die sie nie anprobieren werden dürfen … wie eine marxistische Arbeitsteilung. Ich habe sie gebeten, sich vorzustellen, wer die Kunden waren", erklärte Osman in einem Videogespräch mit Umweltaktivistin und Green Carpet-Gründerin Livia Firth.

Charles Jeffreys Beitrag war eine Spendenaktion für UK Black Pride. Der Designer organisierte eine Live-Party und zwar genau dort, wo sein Loverboy-Konzept den Anfang fand. Das "Solasta" – Schottisch für strahlend oder leuchtend – genannte Event wurde in einem Keller in Dalston abgehalten. Eine Reihe von Live-Performances und Videos, die alle Jeffreys DNA in einem neoromantischen Graffiti-Stil einfingen.

Der Preis für das beste Video des Tages gebührt am Sonntag der "Sustainable Headdress Collection" von Crown of Ruins. Gedreht wurde diese mit sensationeller und jugendlicher Hingabe von Jiagi Bi. Eine wirbelnde Serie an Selfies von Models, die mit neun handgefertigten Hüten aus dem Schiebedach eines Jeeps auf der Fahrt durch eine asiatische Großstadt (wahrscheinlich Shanghai) tanzten, zum Song Slave to Your Loving von Barrie Gledden.

Das Ende der Saison gestaltete Mulberry mit einer Party unter dem Namen "My Local", eine exklusive Aufnahme auf IGTV, mit dem Hashtag #TakeRootBranchOut. An der exklusiven Performance nahm Låpsley im Rahmen der virtuellen My Local Series teil.

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